Heisig, Herbert:
Nachruf auf Dr. Alfred Giesecke, November 1945

 

Sehr verehrte Angehörige, liebe Arbeitskameraden, liebe Arbeitskameradinnen!


Als in der vorigen Woche die Trauerbotschaft von dem Ableben unseres Seniorchefs, Dr. Alfred Giesecke, die in den Teubnerschen Betrieben Schaffenden erreichte, da gab es wohl kaum einen unter uns, der nicht die Größe dieses Verlustes für uns alle schmerzlichst empfunden hätte. Selten wohl wird das Oberhaupt einer Firma sich einer solchen Verehrung und Hochschätzung und zugleich einer solchen Verbundenheit mit den Betriebsangehörigen erfreut haben, wie das bei „unserem Doktor“, wie wir ihn alle nannten, der Fall war. Selten aber auch wird ein Unternehmen das Glück haben, eine Persönlichkeit, wie Dr. Giesecke es war, über ein halbes Jahrhundert lang an seiner Spitze wirken zu sehen.

Wenn heute mir als dem letzten Verlagsmitarbeiter, der noch von Herrn Dr. Giesecke selbst ausgebildet worden ist, die Aufgabe zufällt, im Namen aller, die im Betriebe mit ihm zusammen gearbeitet haben, zu sprechen und seine Persönlichkeit und sein verlegerisches Schaffen zu würdigen, so empfinde ich einerseits die Ehre dieses Auftrages, andererseits aber auch die Schwere der Aufgabe, dem so vielgestaltigen, umfassenden Wirken eines universalen Geistes, wie Herr Dr. Giesecke es war, in kurzen Ausführungen gerecht zu werden. Ich kann meine Aufgabe nicht so auffassen, daß ich in nüchterner Aufzählung die vielen bedeutenden Werke aneinanderreihe, die ihr Entstehen und ihre Förderung dem Wirken Dr. Gieseckes verdanken. Wem es vergönnt war, viele Jahre hindurch in täglichen Konferenzen mit ihm zusammenzuarbeiten und sein Schaffen aus nächster Nähe und eigener Anschauung kennen zu lernen, wer in festlichen Stunden auch außerhalb des Betriebes oft mit ihm zusammen sein durfte und dadurch Bereicherung und Förderung für sich selbst erfuhr, für den muß ein solcher Nachruf zugleich auch dankbarstes persönliches Bekenntnis zu dem Manne sein, dem diese Gedenkstunde gilt.

Als ich 1933 als damals jüngster wissenschaftlicher Mitarbeiter meine Tätigkeit im Hause Teubner aufnahm, da glaubte ich, ich würde es nach der einmal erfolgten Vorstellung mit dem Seniorchef der Firma nur noch bei seltenen Gelegenheiten zu tun haben, insbesondere, da ja meine Fachgebiete den seinigen sehr fern standen. Um so nachhaltigeren Eindruck machte es auf mich, als mich bald nach meinem Antritt Herr Dr. Giesecke selbst in täglichen Besprechungen in seine Lehre nahm und mich in allgemeines verlegerisches Denken und Arbeiten einführte. Ja, sogar auf Reisen ging der damals 65jährige Chef des Hauses mit mir, um mich bedeutenden Autoren meiner Fachgebiete vorzustellen und an Besprechungen über größere Pläne auf diesen Gebieten teilzunehmen. Die eindrucksvolle Art, in der er auch auf den ihm völlig fernstehenden Wissenschaftsgebieten Zusammenhänge erkannte und selbst den Fachgelehrten Ratschläge und Anregungen für die Gestaltung der Werke zu geben wußte, zog mich bald in den Bann seiner Persönlichkeit.

Und nicht nur seinen engeren Mitarbeitern, sondern auch dem weiten Kreise derer, die in ihrer Tätigkeit in der Firma mit ihm in Berührung kamen, erging es so: Wir alle standen voll Bewunderung vor seinem Schaffen, in dem sich eine selten glückliche Verbindung von geistigem Höhenflug und Wirklichkeitssinn, von „Wirtschaft und Idealismus“, wie der Titel der ihm zu seinem 60. Geburtstag gewidmeten Festschrift lautet, offenbarte; er war ebenso der große Verleger wie bedeutender Kaufmann.

Bei allem verlegerischen Schaffen aber stand seine Liebe zur Wissenschaft im Vordergrund. Als ein kulturfeindliches Regime, dem er im Innersten seines Wesens fremd und ablehnend gegenüberstand, unsere der freien Wissenschaft dienende Arbeit bedrohte, da stellte er sich schützend vor unsere Werke und versuchte immer wieder, wenigstens das Schlimmste zu verhüten und der wissenschaftlichen Welt unersetzliche Werte zu erhalten. In vielem werden wir bei unserer Aufbauarbeit jetzt wieder an das anknüpfen können, was er einst geschaffen hat und was durch die Entwicklung der letzten 12 Jahre verdrängt worden war.

Ein unerreichtes Vorbild war er uns allen in seiner ungeheuren Arbeitskraft, mit der er in der Lage war, sich laufend einen Überblick über alles zu verschaffen und zu bewahren, was in den verschiedenen Abteilungen vor sich ging und geplant wurde. Diesen Überblick verlor er auch nicht, wenn er für längere Zeit auf Reisen war, während deren er – selbst ins Ausland – über alles Wesentliche berichten ließ. Und als ein tragisches Geschick ihn durch die Auswirkungen des hinter uns liegenden unseligen Krieges von Leipzig verbannte, da hat er noch bis in die letzten Wochen seines Lebens hinein als getreuer Ekkehard unser Schaffen mit seinem stets willkommenen und wertvollen Rat mit gelenkt – ein Beispiel der Treue und Pflichterfüllung bis zum Äußersten.

Alle die ihm nahestanden, mußten die aufrechte Haltung und Seelengröße bewundern, mit der er so viele schwere Schicksalsschläge ertrug und meisterte: Als durch das unheilvolle Kriegsgeschehen in einer halben Stunde bei uns zerstört wurde, was in weit mehr als einem Jahrhundert organisch gewachsen war, da rief er schon am nächsten Tage seinen engeren Mitarbeiterkreis in seiner Wohnung zusammen, um mit ihm zu beratschlagen, was werden sollte und wie wir wieder aufbauen könnten. Und als kurz danach sein eigenes Heim so schwer getroffen wurde, ließ er sich auch davon nicht zerbrechen.

Für alle, die mit Herrn Dr. Giesecke unmittelbar zusammen zu arbeiten hatten – gleich ob es eine Schreibkraft war oder ein Prokurist –, war er nicht nur der Chef, sondern er war ihnen persönlich nahe verbunden, was seine Anteilnahme an ihrem Ergehen immer wieder erwies. Freilich hat er nicht alle Teubnerianer in allen Abteilungen des Betriebes in gleicher Weise kennen lernen und fördern können, dazu war einmal ihr Kreis und zum anderen seine eigene Arbeitslast zu groß. Wer aber im Rahmen irgend eines Auftrages zu ihm kam, der fand – ohne Ansehen der Person und der Stellung, die er im Hause bekleidete – seine Beachtung, wenn er nur sich für die Sache einsetzte und mit Lust und Liebe zu seiner Arbeit stand. Und hatte Herr Dr. Giesecke erst einmal einen Mitarbeiter bei der Arbeit kennen und schätzen gelernt, dann freute er sich auch über jede persönliche Äußerung, ob es nun ein Ferien- oder sonst ein Festgruß war, und alles fand persönlichste Erwiderung. Auch seine schlichte Güte und Hilfsbereitschaft bekamen wir alle immer wieder zu spüren.

Lassen Sie mich nun versuchen, das verlegerische Schaffen von Herrn Dr. Giesecke in großen Zügen zu umreißen: Über 5 Jahrzehnte hindurch hat er die Geschicke unserer Firma geleitet, zunächst in einer überaus glücklichen Zusammenarbeit mit seinem Bruder, Herrn Konrad Giesecke, und dann – nach dessen frühzeitigem Tod – zusammen mit seinem Neffen, Herrn Martin Giesecke, den er heranbildete und mit dem ihn eine Harmonie und Überreinstimmung der Auffassungen, wie man sie selten findet, verband.

Der Ausgangspunkt des verlegerischen Schaffens von Herrn Dr. Giesecke war seiner innersten Neigung nach sein Fachgebiet: die Antike: Hierfür seien nur zwei umfassende, weltbekannte Unternehmungen genannt: die etwa 900 Bände zählende Bibliotheca Teubneriana, die unter seiner Leitung ausgebaut und deren innerer Wert durch zeitgemäße Verbesserungen erhöht wurde, ferner der Thesaurus Linguae Latinae, herausgegeben von 5 wissenschaftlichen Akademien, beides Unternehmen, die in allen Kulturländern als wissenschaftliche Leistung höchsten Ranges anerkannt werden. Neben diesen großen Standardwerken wurde einer Vielzahl von Einzelveröffentlichungen, deren Verfasser zu den bedeutendsten Vertretern der klassischen Altertumswissenschaft gehören, der Weg in die wissenschaftliche Welt gebahnt. Die Zeitschriften „Archiv für Papyrusforschung“ und die „Byzantinische Zeitschrift“, deren Herausgabe Herr Dr. Giesecke durch große finanzielle Opfer ermöglichte, trugen ebenfalls zur Förderung dieser Wissenschaften bei, während die Neuen Jahrbücher der Verbindung zwischen Wissenschaft, und zwar besonders der klassischen, und der Schule dienten.

Neben den Altertumswissenschaften galt seine besondere Neigung auch den anderen Geisteswissenschaften, vornehmlich der Philosophie, Pädagogik, Religionswissenschaft  und Deutschkunde. Unter seiner stärksten Anteilnahme und Förderung kam es, um auch hier nur einige wenige Beispiele zu nennen, zur Herausgabe der Gesammelten Werke von Dilthey , sowie der Werke von Kerschensteiner, Litt und Gaudig, alles Werke, auf die sich gerade unsere Gegenwart sehr zurückbesinnt.

Aber wie schon vorhin von mir ausgeführt, blieb er nicht bei seinen Fachgebieten stehen, sondern er widmete seine Kraft mit ebensolchem Interesse und mit der gleichen Hingabe auch anderen Wissensgebieten, der Geschichte, den neuen Sprachen, den Handelswissenschaften und nach dem Tode seines Bruders Konrad Giesecke auch der Mathematik, den Natur- und technischen Wissenschaften. Insbesondere sei hier die in der ganzen Welt hoch angesehene
Enzyklopädie der Mathematischen Wissenschaften genannt, ferner die Gesammelten Abhandlungen des norwegischen Mathematikers Sophus Lie und die Gesammelten Werke des schweizer Mathematikers Leonhard Euler, an deren Veröffentlichung er beratend und steuernd mitwirkte.

Zwei seiner Schöpfungen, die die Universalität ihres Urhebers widerspiegeln, seien abschließend noch erwähnt: Das große Sammelwerk Die Kultur der Gegenwart, das leider durch die Auswirkungen des ersten Weltkrieges nicht zu Ende geführt werden konnte, von dem jedoch 30 stattliche Bände mit Beiträgen von ersten Wissenschaftlern seinerzeit erschienen sind. Das Ziel war eine historisch-systematische Würdigung der modernen Kulturarbeit der ganzen Welt auf allen Gebieten. Nur ein Verleger, der selbst über ein universales Wissen verfügte, konnte sich einer solchen Aufgabe annehmen und sie zur Verwirklichung führen.

Der Wunsch, weiteste Volkskreise an den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung teilnehmen zu lassen, führte zur Entstehung der Sammlung wissenschaftlich gemeinverständlicher Darstellungen aus allen Gebieten des Wissens Aus Natur und Geisteswelt, die in Millionen Exemplaren verbreitet ist.

Neben dem wissenschaftlichen Verlag widmete Herr Dr. Giesecke besonderes Interesse auch den Schulbüchern aller Fächer, und gerade der Verbindung von wissenschaftlichem und Schulbuchverlag verdanken ja die „Teubner-Bücher“ ihren hohen Rang in der Welt der Schule.

Die Voraussetzungen dafür, daß alle diese großen Aufgaben so erfolgreich gelöst werden konnten, schuf Dr. Giesecke durch einen inneren Neuaufbau des Verlages, nämlich durch die Einrichtung der Fachredaktionen, eine Maßnahme, die sich als außerordentlich fruchtbar für den Verlag erwies und die unsere Arbeitsweise bis zum heutigen Tag kennzeichnet.

Sehr unvollständig ist das Bild, das ich in meinen kurzen Ausführungen von dem Manne und seinem Werk zeichnen konnte. Auf Vieles konnte ich nicht eingehen. In einer schweren Zeit ist Herr Dr. Giesecke von uns gegangen. Wie oft werden wir angesichts der schwierigen vor uns liegenden Aufgaben seinen Rat vermissen! Wir, die wir im Verlag arbeiten, wissen zurzeit noch nicht, welcher Anteil am kulturellen Neuaufbau uns beschieden sein wird. Aber eines ist uns gewiß: Wir werden den Dank, den wir unserem Doktor schulden, nicht besser abstatten können, als wenn wir nach dem Grundsatz weiterarbeiten, der sein ganzes Schaffen bestimmte und den schon der Gründer unserer Firma, Benedictus Gotthelf Teubner, aufstellte, indem er es als unsere Aufgabe bezeichnet:
" ... die Wissenschaft und geistige Bildung kräftig zu fördern und nicht bloß uns selbst und dem Staate, sondern der Welt – und zwar der geistigen – zu nützen. Dies aber ist das Höchste, weil es von unserem geistigen Ich ausgeht, welches nicht vergeht, sondern über Grab und Zeit dauert.“

 

Dr.H.Fi./23.11.'45

 

(Quelle:
Archiv der Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner, Leipzig, 2001.)

Erstveröffentlichung online am 01.07.2001 unter www.stiftung-teubner-leipzig.de

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Seite erstellt: Leipzig, 01.07.2001.

 

  © Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner (i. G.), Leipzig, 2001.