Schmidtke, Lothar:
Der 17. Juni 1953 im Verlag B. G. Teubner in Leipzig (Gebäude Goldschmidtstraße 28)

 

Nachdem bereits am Abend des 16. Juni 1953 Nachrichten über Unruhen in Ost-Berlin nach Leipzig gelangt waren, trat ich am Morgen des 17. Juni 1953 wie gewohnt meinen Dienst im Gebäude Goldschmidtstraße 28 an. Als am Vormittag bekannt wurde, daß auch in Leipzig oppositionelle Kräfte demonstrierten und sogar in der Nähe des Stadtzentrums Schüsse gefallen seien, berief der Teubner-Mitarbeiter W. O. eine Belegschaftsversammlung in der ersten Etage des Gebäudes Goldschmidtstraße 28 ein, auf der er die seit Herbst 1952 amtierende, vom Staat eingesetzte Verlagsleitung aufforderte, ihre Ämter niederzulegen und das Betriebsgelände zu verlassen. Ich unterstützte W. O. durch öffentliche Zustimmung. Die Betriebsangehörigen wurden daraufhin aufgefordert, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren und weitere Anweisungen abzuwarten.
Ich holte einige Unterlagen aus meinem Arbeitszimmer, meldete mich
beim Pförtner Alfred Barche zu einem Dienstgang zur Internationalen Buchhandlung am Markt  ab und schloß mich den Demonstrationszügen an, die sich inzwischen formiert hatten und aus allen Richtungen dem Stadtzentrum zustrebten. An diesem Tage kehrte ich nicht mehr an meinen Arbeitsplatz zurück.
Doch das, was ich auf meinem Weg zur Arbeit am nächsten Morgen sah, verstärkte meine böse Vorahnung dessen, was sich in Kürze im Verlage abspielen würde, denn über Nacht hatte sich die Stadt nach der Verkündung des Ausnahmezustandes in ein Heerlager verwandelt. Am Morgen des 18. Juni 1953 berief die seit 1952 amtierende Betriebsleitung, die nun wieder die Oberhand gewonnen hatte, ihrerseits eine Betriebsversammlung ein, bei der W. O. wegen seines Auftretens am Vortage fristlos entlassen und aufgefordert wurde, das Haus nach Regelung seiner persönlichen Angelegenheiten zu verlassen. Als W. O. den Raum verließ, schloß ich mich ihm mit der Bemerkung an, daß auch ich hier nichts mehr zu suchen habe. Jedoch aus Angst vor den Folgen einer solchen Handlungsweise kehrte ich in mein Dienstzimmer zurück und begab mich in gespannter Erwartung, aber praktisch unfähig, meine Aufgaben fortzuführen, an meinen Arbeitsplatz. Kurze Zeit danach erschien W. O., verabschiedete sich von mir und dankte mir für meine Hilfe an diesen beiden Tagen. Ich sah W. O., dem ich neben M. G. meine Einstellung in den Verlag B. G. Teubner verdanke, niemals wieder.
Nachdem der Schock, den der Aufstand verursacht hatte, gewichen war, wurden einige Betriebsangehörige dazu verpflichtet, zum Schutze der Betriebsanlagen in den zum Verlag gehörenden Gebäuden eine zeitlang zu übernachten. So zog man sogar auch mich für einige Tage zu Nachtwachen im Gebäude Goldschmidtstraße 28 heran. Auf den sich anschließenden Unterredungen mit der Verlagsleitung jedoch wurde mir unter anderem eine feindselige Haltung ihr gegenüber vorgeworfen, die es unmöglich mache, mit mir, ohne vorher besondere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen zu müssen, zu verhandeln. Ich kündigte daher mein Arbeitsverhältnis zum 31. November 1953 und erhielt eine Anstellung im Fachbuchverlag Leipzig. Aber bereits nach wenigen Monaten holte mich meine Teubner-Vergangenheit ein, und man eröffnete mir, daß meine Anstellung unter anderem in Unkenntnis meines Verhaltens am 17. Juni 1953 erfolgt sei. In der Nacht zum 7. Dezember 1954 verließ ich Leipzig, durchlief in West-Berlin das Bundesnotaufnahmeverfahren und versuchte in West-Deutschland einen neuen beruflichen Anfang.
Nach Leipzig kehrte ich erst am Morgen des 16. Februar 1990 wieder zurück. Es freut mich sehr, daß dort die Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner entsteht - der Verlag B. G. Teubner ist über die Jahrzehnte hinweg bis heute meine berufliche Heimstätte geblieben.
 

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Abbildungen:

Abb.1: Leipzig, Blick in die Poststraße von der Querstraße aus.
Rechts das Verlagsgebäude B. G. Teubner, Poststraße Nr. 3.
Foto: N. N., 01.05.1952.

Abb.2: Leipzig, ehemalige Poststraße Nr. 3: Rest des ehemaligen Verlagsgebäudes B. G. Teubner.
Nach 1954 von der Post, seit etwa Mitte der neunziger Jahre von der Telekom genutzt.
Foto: Lothar Schmidtke, 20.06.1995.

Abb.3: Leipzig, Blick auf den Rest des ehemaligen Verlagsgebäudes B. G. Teubner
von der Querstraße aus. Links das Universitätshochhaus.
Foto: Lothar Schmidtke, 20.06.1995.

Abb.4: Leipzig, Frontseite des ehemaligen Verlagsgebäudes B. G. Teubner, ehemalige Poststraße Nr. 3.
Foto: Lothar Schmidtke, 20.06.1995.

Abb.5: Leipzig, Eingang des ehemaligen Verlagsgebäudes B. G. Teubner mit dem Verlagssignet BGT
und der Hausnummer 3 der ehemaligen Poststraße.
Foto: Lothar Schmidtke, 20.06.1995.

Abb.6: Leipzig, Eingang des ehemaligen Verlagsgebäudes B. G. Teubner mit dem Verlagssignet  BGT
und der Hausnummer 3 der ehemaligen Poststraße.
Foto: Lothar Schmidtke, 20.06.1995.
 

(Quelle:
Lothar Schmidtke, Kassel / Archiv der Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner, Leipzig, 2002.)

Erstveröffentlichung online am 21.02.2002 unter www.stiftung-teubner-leipzig.de

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Siehe auch: Graphisches Viertel der Stadt Leipzig ...

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Seite erstellt: Leipzig, 21.02.2002.
 

  © Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner (i. G.), Leipzig, 2002.