Giesecke, Martin:
Persönliches Schreiben (Auszüge), Stuttgart 7.2.1955,
an seinen Sohn Michael Giesecke in München

 

 

... Der Teubner-Verlag hat mit Ausnahme der Gebiete Rechtswissenschaft und Medizin sowie einiger spezieller Gebiete auf allen Wissensgebieten Veröffentlichungen herausgebracht. Seine verlegerische Tätigkeit war also sehr umfassend, und zwar sowohl auf dem wissenschaftlichen Sektor (Universität, Hochschule, wissenschaftliche und industrielle Forschung) als auch auf dem Sektor des Schulbuches (Höhere Schule und Mittelschule). Die verlegerische Arbeit am Schulbuch wurde nach der Lehrplanreform im Jahre 1926 sehr intensiviert, so daß sich BGT im Laufe der anschließenden Jahre zu einem der führenden Schulbuchverlage entwickelte.

 

Während der Nazizeit traten gewisse Behinderungen in der Zusammenarbeit mit einer größeren Zahl von jüdischen Autoren unseres Verlages auf, die vor allem die Gebiete der wissenschaftlichen Mathematik und der Geisteswissenschaften betrafen. In den Jahren von 1934 an wurde der technische Verlagssektor besonders aktiviert (Technische Veröffentlichungen für Hochschulen, Ingenieurschulen und Berufsschulen).

 

Im Dezember 1943 wurden der Verlag und der graphische Betrieb, der in den Jahren 1936 bis 1938 eine Belegschaft von etwa 700 Personen hatte, fast vollständig zerstört. Bis zum Zusammenbruch war der Verlag bemüht, die wichtigsten Schul- und Lehrbücher wieder herzustellen, was aber zufolge der Kriegseinwirkungen auch an anderen Orten nur in beschränktem Umfang zu erreichen war. – Nach 1945 wurde mit den eigentlichen Wiederaufbauarbeiten begonnen, die aber nur  behelfsmäßig durchgeführt werden konnten im Hinblick auf die bekannten Materialverhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone. Ein mittlerer graphischer Betrieb, der nach dem Zusammenbruch hinzuerworben worden war, um wieder eine Produktionsgrundlage zu gewinnen, wurde von den Sowjets zu etwa 80% demontiert. Immerhin gelang es, wenn auch zum Teil recht behelfsmäßig, Verlag und graphischen Betrieb wieder so in Gang zu bringen, daß die Belegschaft 1950 wieder 450 Personen zählte.

 

Die verlegerische Arbeit nach dem Zusammenbruch begann erst 1947, nachdem dem Verlag Lizenz erteilt worden war. Einige ganz geringe Bestände, die 1943 vom Brand verschont geblieben waren, wurden Ende 1945 beginnend wieder ausgeliefert. Es bestand zunächst die Absicht, in größerem Rahmen die Produktion wieder aufzunehmen. Die Versuche einer geisteswissenschaftlichen Produktion wurden im Keime erstickt zufolge der politischen Verhältnisse. Man gab BGT sogar zu verstehen, keine geisteswissenschaftlichen Veröffentlichungen herauszugeben. So lag es nahe, die politisch neutralsten Gebiete zu pflegen, und zwar Mathematik, Naturwissenschaften und Technik für Hochschule, Universität, wissenschaftliche Forschung sowie Fach- und Berufsschulen und die Praxis. Die Wiederaufnahme der verlegerischen Arbeit am Schulbuch wurde durch den Staatsverlag Volk und Wissen nach einer Übergangszeit unterbunden.

 

Die ostzonalen Verhältnisse wirkten sich auf die verlegerische Arbeit sehr aus. Von den Autoren des Teubner-Verlages befinden sich etwa 80% in Westdeutschland, etwa 10% im westlichen Ausland und etwa 10% in der sowjetischen Besatzungszone. Der Verkehr mit den westlichen Autoren gestaltete sich immer schwieriger (Forderungen nach politischer Ausrichtung des wissenschaftlichen, vor allem aber des Fachschrifttums, völlige Voranstellung des sowjetischen Anteils an der wissenschaftlichen und fachwissenschaftlichen Arbeit und Forschung, nur in beschränktem Umfang Möglichkeit der Honorarzahlungen nach Westdeutschland und den westlichen Ländern usw.). Hinzu kamen Materialschwierigkeiten, Behinderungen in der Belieferung der Bundesrepublik und der westlichen Länder. Diese Situation ermöglichte 1952 nicht mehr die Fortführung einer wissenschaftlich objektiven Verlagsarbeit im Sinne der Tradition des Teubner-Verlages, so daß Leipzig verlassen und der Sitz des Teubner-Verlages nach Stuttgart verlegt wurde. Der sitzverlegte Verlag ist der allein rechtmäßige Teubner-Verlag, dem alle Verlagsrechte zustehen und der auch allein nur zur Führung des Firmennamens B. G. TEUBNER berechtigt ist. Der Leipziger Betrieb wurde durch Übernahme in staatliche Verwaltung konfisziert. Seine Veröffentlichungen sind illegal.

 

Nach der Sitzverlegung hat sich der Teubner-Verlag zunächst der Herausgabe von Veröffentlichungen auf den Gebieten Mathematik, Naturwissenschaften und Mechanik angenommen (Universität, Hochschule, wissenschaftliche Forschung, Ingenieurschule, Berufsschule, Praxis). Es ist vorgesehen, die Verlagsarbeit nach und nach auf die wichtigsten der früheren für Schule und Wissenschaft bestimmten Gebiete zu erweitern.

 

Die Fülle der vor 1943 erschienenen Veröffentlichungen ermöglicht es nicht, einige wichtige Publikationen besonders herauszustellen. Was nach dem Kriege in Leipzig herausgegeben wurde, ist zum großen Teil nun wieder in Stuttgart im wesentlichen in neubearbeiteten Auflagen erschienen.

 

Kohlrausch, Praktische Physik erschien erstmals 1870. Ende 1954 ist der erste Band der zweibändigen 20. vollständig überarbeiteten Auflage herausgebracht worden. Die Gesamtauflage des Kohlrausch dürfte sich auf  100.000 bis 120.000 Exemplare belaufen, wobei zu bemerken ist, daß einige Auflagen, so z. B. die 18. und 19. Auflage, eine Reihe unveränderter Nachdrucke erlebt haben. ...      


 

(Quelle:
Michael Giesecke, Dossenheim / Archiv der Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner, Leipzig, 2002.)


Erstveröffentlichung online am 21.02.2002 unter www.stiftung-teubner-leipzig.de
 

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Seite erstellt: Leipzig, 21.02.2002.
 

  © Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner (i. G.), Leipzig, 2002.