Wille, Friedrich:

Die Mathematik im Verlag B. G. Teubner
 

Das Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1945 und die Teilung Deutschlands unterbrachen zunächst die Arbeit des Teubner-Verlags in Leipzig. Erst 1953 siedelte der Verlag nach Stuttgart über und begann – unter Schwierigkeiten – seinen Neuaufbau. Die Schulbuchproduktion, die ja nicht warten konnte, war inzwischen auf andere Verlage übergegangen. Insbesondere trat der Klett-Verlag in Stuttgart hier die Nachfolge B. G. Teubners an, auf der Grundlage Teubnerscher Verlagswerke, für die nach 1945 Klett die Lizenzen erteilt oder die Rechte überlassen wurden.

Der Teubner Verlag stand also mit leeren Händen da. Doch als ob er sich auf seine mathematischnaturwissenschaftlichen Anfänge im Jahre 1845 besänne, begann er mit technischen Titeln. In der Mathematik wurde
Rothe, R. : Höhere Mathematik für Mathematiker, Physiker, Ingenieure (7 Bände)
aus der Vorkriegszeit übernommen und nachgedruckt. An Technischen Hochschulen besonders war dieses Werk sehr verbreitet.

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1958 wurde dann von Henry Görtler in Freiburg der Vorschlag gemacht, eine Lehrbuchreihe der Angewandten Mathematik und Mechanik zu beginnen. Wie 1845 fehlten nämlich auch 1958 wiederum brauchbare Lehrbücher über diese Gebiete. Der Teubner-Verlag griff die Idee gern auf, und so schlug wenig später die Geburtsstunde der „Leitfäden der angewandten Mathematik und Mechanik“ – genannt LAMM-Reihe.

Der Gleichklang mit GAMM (Gesellschaft für Angewandte Mathematik und Mechanik) ist hierbei beabsichtigt. Es zeigt, wo die LAMM-Reihe verankert ist, und überdies, daß der Teubner-Verlag hier mit der zweiten großen Mathematiker-Gesellschaft (neben der DMV) einen fruchtbaren Kontakt für die Zukunft knüpfte.

Die ersten Bände der LAMM-Reihe, die ihren Ruf begründeten, seien hier genannt:
Bd.   1: Collatz, L.: Differentialgleichungen (1960).
Bd.   2: Stiefel, E.: Einführung in die numerische Mathematik (1961).
Bd.   3: Magnus, K.: Schwingungen (1961).
Bd.   4: Wieghardt, K.: Theoretische Strömungslehre (1965).
Bd.   5: Bauer, F. L., Heinhold, J., Samelson, K., Sauer, R.: Moderne Rechenanlagen (1965).
Bd.   6: Becker, E: Gasdynamik (1966).
Bd.   7: Uhlmann, W.: Statische  Qualitätskontrolle (1966).
Bd.   8: Künzi, H. P., Tzschach, H. G., Zehnder, C. A.: Numerische Methoden der mathematischen Optimierung (1967).
Bd.   9: Witting, H.: Mathematische Statistik (1966).
Bd. 10: Leipholz, H.: Stabilitätstheorie (1968).
Bd. 11: Schwarz, H. R., Rutishauser, H., Stiefel, E.: Numerik symmetrischer Matrizen (1968).
Bd. 12: Martensen, E.: Potentialtheorie (1968).

Die Mischung ist zukunftsweisend. Neben „klassischer“ Angewandter Mathematik (Collatz, Martensen) wird der aufblühenden Numerik Rechnung getragen (Bd. 2, Bd. 8 und Bd. 11), und das in der Zeit  der „Dampfcomputer“, wie heutige Studenten die elektronischen Kleiderschränke der sechziger Jahre despektierlich nennen. Überdies ist Bd. 5 über Moderne Rechenanlagen in der Tat Vorreiter einer gerade knospenden neuen Wissenschaft, nämlich der Informatik. Schließlich wollen wir die Bände 7 und 9 herausheben, wobei Bd. 9 (Witting) nach dem Kriege das erste deutsche Lehrbuch über mathematische Statistik war.

Als sehr erfolgreiches Buch sei noch erwähnt
Bd. 19: Hainzl, J.: Mathematik für Naturwissenschaftler (1971).
Dieses präzise geschriebene und trotzdem leicht verständliche Buch besticht durch seine glückliche Themenauswahl. Es erlebte 1985 seine vierte Auflage.

Heute zählt die Görtlersche LAMM-Reihe über 60 Bände. Dabei gehören 17 Bände inhaltlich zur Datenverarbeitung, ein Zeichen für die Aktualität der Reihe. – Weiter Reihen zur Datenverarbeitung bei Teubner sind
“Leitfäden und Monographien der Informatik“ und
„Mikrocomputer-Praxis“.

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Diese Aufgeschlossenheit gegenüber dem Zukünftigen – ja, geradezu eine „Nase“ für das Kommende – zeigt der Verlag B. G. Teubner auch  mit der neuen Serie
„Mathematische Methoden in der Technik“, herausgegeben von J. Lehn, H. Neunzert und H. Wacker.
Zusammen mit „Proceedings“ über Tagungen, deren Themen industriebezogene Mathematik waren, wird hier eine neue Richtung deutlich, nämlich die der Mathematischen  Modellierung. Dabei handelt es sich um neue Verknüpfungen zwischen Mathematik und Realität, wobei auch häufig mit neuen Methoden vorgegangen wird (z. B. mit der Computer-Simulation dynamischer Systeme).

Im Rahmen der Angewandten Mathematik ist auch die Gründung der Zeitschrift
„Mathematical Methods in the Applied Sciences“ (MMAS)
im Jahre 1979 eine wichtige Wegmarke. Sie wird von B. Brosowski und G. F. Roach nebst vielen namhaften „Advisory Editors“ herausgegeben. Die in MMAS veröffentlichten Arbeiten befassen sich vorwiegend mit  Problemen der Funktionalanalysis, der Differentialgleichungen, Variationsmethoden u. ä., kurz mit „angewandter Analysis“.

Wer nun glaubt, daß bei B. G. Teubner die Reine Mathematik unter den Tisch fällt, der hat von der Vielseitigkeit und Tradition des Verlages eine falsche Vorstellung. In den „Mathematischen Leitfäden“, die es auch schon vor dem Kriege gab, wird mit neuen Titeln die klassische Tradition des Verlages weitergeführt.

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Als Nachfolgewerk von Rothes Bänden der „Höheren Mathematik für Mathematiker, Physiker, Ingenieure“ sei noch das erfolgreiche Buch
Brauch, W., Dreyer, H. J., Haacke, W.: Mathematik für Ingenieure. 7. Aufl. (1985)
erwähnt. Es enthält einen großen Schatz hervorragender Anwendungsbeispiele aus dem Ingenieurbereich. Als Weiterführung dieser Lehrbuchtradition erscheint das vierbändige Werk:
Burg, K., Haf, H., Wille, F.: Höhere Mathematik für Ingenieure (1985/86).

Es ist eine Freude, über alles Zeitgebundene hinaus noch einige ältere unsterbliche Werke im Katalog von 1986 zu finden, wie
Hilberts „Grundlagen der Geometrie“,
Hausdorffs „Nachgelassene Schriften“ und
Kamkes „Differentialgleichungen“.
Das große Erbe des Teubner-Verlages verbindet sich hier mit dem Neuen, der Bogen schließt sich.

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Der Teubner-Verlag ist nach dem Kriege den beschriebenen Weg erfolgreich gegangen. Für das letzte Jahrzehnt ist dies weitgehend das Verdienst von Dr. P. Spuhler im Teubner-Verlag. Sein Engagement für eine anwendungsnahe Mathematik und – darüber hinaus – gute verständliche Lehrbücher überhaupt ist mir in vielen Gesprächen deutlich geworden. Auch das Aufgreifen schnell aufstrebender Entwicklungen, wie z. B. der „Mikrocomputer-Praxis“, zeugt von der Lebendigkeit seiner Verlagsarbeit und dem Bestreben, diese Gebiete „lernbar“ zu machen. In diesem Sinne gilt für den Teubner-Verlag – bewußt oder unbewußt – immer noch das alte Bildungsideal des Neuhumanismus. Ich möchte es für die heutige Zeit so formulieren: Es ist das Streben, humanistische und mathematisch-naturwissenschaftliche Bildungswerte zu einem Kulturgut zu verschmelzen, im Dienste der Menschheit und der sie umgebenden Natur.


(Quelle:
Wille, Friedrich: Die Mathematik im Verlag B. G. Teubner (Auszüge).
In: Wechselwirkungen. Der wissenschaftliche Verlag als Mittler.
175 Jahre B. G. Teubner 1811 –
1986. Stuttgart: Teubner-Verlag 1986, S. 58; 61-63; 66; 67.)


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Siehe auch:

Aus Teubner-Büchern (von Albert Einstein
über "Ach Gott, ein Mathematiker!" bis zu
einer Fehleinschätzung von Bill Gates) ...



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Seite erstellt: Leipzig, 15.09.2002.

 

  © Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner (i. G.), Leipzig, 2002.