Krämer, Heinrich:

Vorrede zur ersten Lectio Teubneriana
Leipzig, Alte Handelsbörse, 8. Mai 1992

 

 

Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Teubnerschen Verlage, liebe Auctores, liebe Freunde, verehrte Gäste!

 

Ich begrüße Sie ganz herzlich zur ersten öffentlichen Veranstaltung des Verlages B. G. Teubner nach der Vereinigung der 40 Jahre getrennten Firmen. Sehr herzlich danke ich dem Gewandhaus-Bläserquintett für den belebenden musikalischen Introitus. Dieses Bläserquintett ist, wie wir erfahren, die älteste Quintett-Vereinigung auf der ganzen Welt, geboren 1896, also bald 100 Jahre alt, mithin hörbar etwas jünger als die Offizin und der Verlag B. G. Teubner, die sich vor 181 Jahren zu regen begannen.

Das Gewandhaus-Bläserquintett spielt heute für B. G. Teubner zum zweiten Mal. Das erste Mal geschah es vor 64 Jahren, 1928, zu Ehren von Dr. Alfred Giesecke, dem Mitinhaber unserer Firma und Gründer-Urenkel, der von 1892 an in fünf Jahrzehnten die reichste Blüte des wissenschaftlichen und Schulbücher-Verlages mit heraufführte, an seinem 60. Geburtstag in Friedrichroda in Thüringen, in seinem Tusculum. Mit welchen Noten das Quintett den dies natalis unserer verehrten Verlegerpersönlichkeit schmückte, wurde uns nicht überliefert.

Für die Einleitung der Lectiones Teubnerianae hat das Bläserquintett Alte Tänze aus dem 17. Jahrhundert ausgewählt, die Farkas, seinem Lehrer Respighi folgend, im Schatzhaus der ungarischen Volksmusik fand und 1953 neu komponierte.

Wie der Komponist, so denken und arbeiten auch wir, der Verlag: beständig zurückkehrend in das Schatzhaus nicht bloß der Geschichte, sondern der unverbrüchlichen Erfahrungen, welche die Entwicklung unseres Unternehmens bewirkt und geprägt haben, mit Nutzen und ohne Nachteil für unser Leben – um den Titelwörtern der immer noch aufregenden unzeitgemäßen Betrachtung Friedrich Nietzsches, der auch unserem Verlag als Autor verbunden war, einen eindeutigen Unternehmenssinn zu geben -; solche Erfahrungen sind Anker und Kompaß, die uns sicherer vorausblicken und mutiger vorwärtsstreben lassen, wenn wir die Pflichten der Gegenwart als Forderungen des Tages zu erfüllen suchen.

B. G. Teubner war stets und ist fortwährend ein wissenschaftlicher Verlag für Forschung, Lehre und Anwendung, für Universität, Hochschule, Schule und industrielle Praxis. Seine Hauptarbeitsgebiete sind: die Altertumswissenschaft und Geisteswissenschaften – sie bilden den ältesten Verlagszweig, mit den Schwerpunkten der Bibliotheca Teubneriana, die als umfassendste Reihe kritischer Textausgaben seit mehr als 140 Jahren besteht, sowie des Thesaurus linguae Latinae, des vor 95 Jahren durch Verlagsvertrag mit den fünf kartellierten Akademien begründeten größten lateinischen Wörterbuches mit bisher 142 erschienenen Faszikeln; schließlich der 100 Jahre alten Byzantinischen Zeitschrift, Zentralorgan der Byzantinistik, und des nur wenige Jahre jüngeren Archivs für Papyrusforschung. Nietzsche nannte B. G. Teubner in einem Brief an Richard Wagner „die eigentlich philologische Generalfirma“.

Das zweite Hauptarbeitsgebiet, auch in der geschichtlichen Entwicklung der Firma, sind die Mathematik und die Naturwissenschaften, Verlagszweig seit 155 Jahren – mit dem Focus der 1868 begründeten Mathematischen Annalen, der „Entdeckungszeitschrift des Teubnerschen Verlages“; dann des Jahresberichtes der Deutschen Mathematiker-Vereinigung seit 1895; schließlich der „Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften unter Einschluß ihrer Anwendungen“ -: Diese drei großen Unternehmungen, die mehr als 120 Jahre mathematischer Forschung umschließen – von Abel, Lie, Clebsch, Felix Klein, Minkowski, Hilbert bis Hermann Weyl – diese Unternehmungen ließen 1911, zur Hundertjahrfeier der Firma, die mathematischen Gelehrten urteilen: „Die Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner ist die Heimstätte der deutschen Mathematik geworden.“ Der physikalische Wiegendruck der Firma: Kohlrausch, Praktische Physik, blieb seit 1870, unter der Obhut der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und späteren Bundesanstalt, durch 24 Auflagen das Fundamentalwerk der messenden Physik.

Heute, am 8. Mai 1992, ist im mathematischen Zweig ein Werk singulären Charakters erschienen: eine kommentierte Faksimileausgabe zweier algebraischer Lehrbücher des Rechenmeisters Adam Ries unter dem Titel „Coß“. Wir kennen ihn ja nur aus der Wendung: das macht nach Adam Riese ... In Wirklichkeit ist er ein großer Vertreter der algebraischen Mathematik des 16. Jahrhunderts, der es verstand, die Ergebnisse der Gelehrten unters Volk zu bringen. Unser Verlagswerk, das die Handschrift von Adam Ries zum ersten Mal vollständig wiedergibt, ehrt den Autor zu seinem 500. Geburtstag; und es wurde vor wenigen Stunden der Öffentlichkeit übergeben, und zwar zuerst dem Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern – in Staffelstein, dem Geburtsort des Rechenmeisters.

Adam Ries ist übrigens ein Vorfahr des Firmengründers Benedictus Gotthelf Teubner. Wir legen als Verleger immer Wert darauf, den Kreis unserer Unternehmungen zu schließen; und hier hilft uns einmal sogar die Genealogie.

Der Mathematik und den Naturwissenschaften folgen, in geschichtlicher und systematischer Ableitung, die wesentlichen Arbeitsgebiete der Ingenieurwissenschaften, mit Bauwesen, Maschinenbau und Elektrotechnik; schließlich, als jüngster Verlagszweig am Baum der numerischen Mathematik, die Computerwissenschaft oder Informatik. Die philologisch-mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen haben im 20. Jahrhundert  den systematischen Aufbau des Teubnerschen Schulbücher-Verlages ermöglicht, der in den Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen seine höchste Blüte erreichte.               

Die genannten Disziplinen und die ihr zugehörenden Gelehrten haben dem Verlag die geistige Heimat gegeben. Wirtschaftliche Heimat fand das Unternehmen an der Wiege des Buchhandels, in Leipzig, dem Gründungsort der Teubnerschen Firma, dessen Urbanität die Entfaltung unserer Offizin und unseres Verlages nur begünstigen konnte.

Und noch zu Lebzeiten von Benedictus Gotthelf Teubner gründeten Alphonse Devrient und Hermann Giesecke 1852 in Leipzig ihr „Institut“ Giesecke & Devrient als „Offizin für Geld- und Werthpapiere“, die bald in der Kunst des Stahlstiches, des Kupferstiches und der Wasserzeichenherstellung eine weithin beachtete Blüte erreichte und schon 1856 in ihrer Kupfer- und Stahldruckerei die erste Banknote der Firma G+D fertigte. Das war im letzten Lebensjahr von Benedictus Gotthelf Teubner; und bereits in ihrer Enkelgeneration waren B. G. Teubner und Giesecke & Devrient verwandtschaftlich und wirtschaftlich eng miteinander verbunden.

Seit 1969 ist Giesecke & Devrient in München die Muttergesellschaft  von B. G. Teubner in Stuttgart. B. G. Teubner hat den Leipziger Verlag wiedererworben und die geistige und wirtschaftliche Einheit der Gesamtfirma wiederhergestellt. Giesecke & Devrient hat ebenfalls im vergangenen Jahr ihre alte Stammfirma in Leipzig wieder übernommen. Muttergesellschaft in München und Tochtergesellschaft in Stuttgart mit Töchtern in Leipzig – so schließt sich der Kreis der Firmengenealogie und öffnet sich zum Kreislauf wirtschaftlicher Unternehmenspolitik.

Unsere Verlagsprogramme umfassen die kritische Textausgabe, den Kommentar und die Monographie wie das Wörterbuch; das Lehrbuch wie das Handbuch und Nachschlagewerk; die wissenschaftliche Zeitschrift wie das Archiv zur Erforschung einer Disziplin oder Teildisziplin.

Die Arbeitsgebiete der Muttergesellschaft Giesecke & Devrient seien durch folgende Stichwörter beschrieben: Herstellung des Banknotenspezialpapiers für die deutsche Währung und die Währung anderer Länder, der Druck von Banknoten, besonders der ersten automationsfähigen Banknoten der Welt, die maschinell unbetrüglich identifizierbar, maschinell lesbar und bearbeitbar sind; die Entwicklung von Systemen zur Automatisierung der Papiergeldbearbeitung im Gesamtsystem der Notenbanken sowie die Konstruktion und Fertigung der dazu notwendigen Banknotenbearbeitungsmaschinen; schließlich die Weiterentwicklung von Zahlungsverkehrssystemen der Kreditwirtschaft und Wirtschaft zur Automatisierung des Verkaufs von Waren und Dienstleistungen.

Mit diesen Stichwörtern umschreiben wir nichts anderes als die Wissenschaft und den Handel, ihre Voraussetzungen, Leistungen und Wirkungen. Und wir sprechen über sie in dieser Stadt, die als berühmt durch den Handel und durch die Wissenschaften im Kurfürstentum Meißen gepriesen wurde, vor mehr als 400 Jahren bereits, wie im Stich von Hegenberg 1572: „Lipsia litterarum studiis et mercatura celebre Misniae oppidum.“

Hermes, Hüter der Wege, Beschützer der Reisenden, der Gott des Handels und der Stifter der Wissenschaft – wo hätte er sich anders als hier in Leipzig seine mitteldeutsche Götterpfalz erbauen sollen? Hermes wird Lipsia nicht verlassen – doch nur um den Preis nicht, daß wir die äußere Einigung der so lange getrennten Teile Deutschlands im politischen wie im unternehmerischen Sinne durch innere Wandlung und Erneuerung rechtfertigen und durch Geist und Tat verbürgen: im Sinne des Begründers unserer Firma, der ja darin die Natur, auch das Schöne unseres Berufes erblickte, daß er „ein Geschäft recht geistiger Natur sei, in dem wir die Wissenschaft und geistige Bildung kräftig fördern und nicht bloß uns selbst und dem Staate, sondern der Welt nützen können“.

Eingedenk des Firmengründers Benedictus Gotthelf Teubner und seiner Lebensmaxime  - „Was gemacht werden kann, wird gemacht“ -, und eingedenk der Vereinigung der Teubnerschen Verlage im 180. Jahr des Bestehens der Firma rufen wir - im 140. Jahr des Bestehens unserer Muttergesellschaft Giesecke & Devrient - am Gründungsort die „Lectio Teubneriana“ als jährlich wiederkehrende öffentliche Vorlesung ins Leben, und wir dürfen uns dabei Goethes Wort zu eigen machen:
 

„Ältestes bewahrt mit Treue,
Freundlich aufgefaßtes Neue.“
 

Herr Professor Merkelbach, ich bitte Sie um Ihre Vorlesung „Die Bedeutung des Geldes für die Geschichte der griechisch-römischen Welt".

                             

 

(Quelle:

Krämer, H.: Vorrede zur ersten Lectio Teubneriana.
In: Merkelbach, R.: Die Bedeutung des Geldes für die Geschichte der griechisch-römischen Welt.
B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1992.)   

 

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Seite erstellt: Leipzig, 21.02.2002.