Neunzert, Helmut /
Rosenberger, Bernd:
Oh Gott, Mathematik !? /
Wie fällt wem etwas Mathematisches ein ? (Auszüge)
„Zunächst muß man sich und das Problem vorbereiten: Man muß das Problem säubern,
‚auf den Punkt bringen’, es von mehreren Seiten betrachten, an ihm herumrechnen,
Zwischenschritte ausprobieren (‚Wenn ich das wüßte, dann könnte ich doch ...’),
vor allem Beispiele ausprobieren, in die Bibliothek laufen und nach analogen
Fällen suchen, kurz: Man muß intensiv arbeiten. Auch wenn nicht sofort ein guter
Einfall kommt, muß man sich weiterhin zäh und hartnäckig mit dem Problem
auseinandersetzen oder, wie es Newton formuliert, ‚das Problem im Geiste immer
vor sich haben’. Das ist am Anfang oft mühevoll; man quält sich, ist frustriert.
Aber diese Auseinandersetzung mit dem Problem ist notwendig, nicht nur bei
großen Entdeckungen, sondern auch bei den mathematischen Übungen des ersten
Semesters! Mathematikstudenten im ersten Semester sind das oft genug nicht
gewohnt, wußten sie doch in der Schule immer gleich, wie es geht – und nun haben
sie keine Ideen, sitzen da und grübeln: ‚Ob die anderen sich auch so schwertun?
Oder nur ich? Sicher können die anderen das alles, nur ich nicht.’ In einer
solchen Situation sollten sie sich immer vor Augen halten: Fast alle anderen
haben dieselben Zweifel, auch ihnen fließen die Lösungen nicht so einfach zu.
Darum hat man auch allen Grund zum Mißtrauen, wenn einer behauptet, es sei alles
ganz einfach, er mache alles ‚mit links’. Vielleicht stimmt es ja (solche
Ausnahmen mag es ja geben), oft ist es jedoch Angabe oder, noch schlimmer,
Ignoranz – er merkt einfach nicht, daß er es eigentlich nicht kann.
Manch einer (auch einer von uns), der
Mathematik studiert hat, erinnert sich mit Schrecken an das erste Übungsblatt im
ersten Semester, dessen Aufgaben so gar keinen Zusammenhang mit dem erkennen
ließen, was in der ersten Woche gelehrt worden ist. Er erinnert sich daran, wie
er zu Hause zusammen mit seinem ehemaligen Mathematiklehrer, der auch schon
fünfzehn Jahre vorher die Universität verlassen hatte, das ganze Wochenende an
den Aufgaben mit glühenden Köpfen gearbeitet und schließlich Lösungen gefunden
hat, wie er diese Lösungen am Montag voller Stolz abgegeben und am Mittwoch
schließlich korrigiert zurückerhalten hat – mit dem niederschmetternden
Ergebnis: Null Punkte! Zum Glück hat sich dies im Laufe des Studiums geändert.
...
Nachdem wir jetzt so viel darüber erfahren haben, wie man, zumindest im Prinzip,
gute Ideen erzeugt, wollen wir noch ein paar praktische Ratschläge von J. E.
Littlewood weitergeben. Was kann man tun, wie verhält man sich, um ein guter
Mathematiker zu sein oder zu werden, vorausgesetzt, die entsprechenden Anlagen
und der Wille dazu sind vorhanden?
1. Sei absolut aufrichtig zu deiner
Arbeit; ein Schwindel nützt dir nichts; man kann sich nicht selbst betrügen.
2. Arbeite hart; es ist erstaunlich, wieviel man aushält; oft steigert harte
Arbeit sogar deine Vitalität.
3. Forschen und Lernen sind verschiedene Dinge – du mußt lernen ‚vage’ zu
denken.
4. Erwarte als Anfänger nicht zu schnell Erfolge; auch später wird es immer
wieder Frustrationen geben; sie dürfen nur nicht zu lange dauern.
5. Forsche nicht mehr als sechs Tage pro Woche, vier bis fünf Stunden täglich
mit einer Pause nach jeder Stunde.
6. Morgens arbeitet man besser; die Behauptung, daß die Nacht am geeignetsten
sei, ist eine der vielen Illusionen, die man sich über kreative Arbeit machen
kann.
7. Wenn du am Abend entspannen möchtest, wirst du kaum hohen ästhetischen
Ansprüchen genügen können (Musik scheint eine glückliche Ausnahme zu sein); laß
dich deshalb ruhig manchmal anspruchslos unterhalten.
8. Zu Beginn der Arbeit muß man sich ein wenig aufwärmen; ein guter Trick hierzu
ist, am Vortag in der Mitte deiner Arbeit (in der Mitte eines Satzes usw.)
aufzuhören.
9. Mache drei Wochen Ferien – neunzehn Tage reichen nicht; mache dann wirklich
Ferien; Skilaufen und Bergsteigen sind besser als Museumsbesuche.
10. Wenn du etwas gefunden und aufgeschrieben hast, wird dir das Ergebnis
trivial vorkommen; lies es zehn Tage später wieder.
11. Wenn deine Kreativität versiegt, versuch es mit einem längeren Urlaub;
solltest du über vierzig sein und der Urlaub nicht mehr helfen, strebe einen
höheren Verwaltungsposten an.“
(Quelle:
Neunzert, Helmut / Rosenberger, Bernd: Oh Gott, Mathematik !?
Einblicke in die Wissenschaft.
Stuttgart / Leipzig: Teubner-Verlag 1997,
S. 115/116; 120/121 / Auszüge.)
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Siehe auch:
Aus
Teubner-Büchern (von Albert Einstein
über "Ach Gott, ein Mathematiker!" bis zu
einer Fehleinschätzung von Bill Gates) ...
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Seite erstellt: Leipzig, 15.09.2002.
© Stiftung Benedictus
Gotthelf Teubner (i. G.), Leipzig, 2002.