Ziegler, Dorothea:
Der "Bronstein"
Ein Werk hatte für den Teubner-Verlag eine herausragende Bedeutung: das
"Taschenbuch der Mathematik" von Ilja Nikolajewitsch Bronstein und Konstantin
Adolfowitsch Semendjajew. Zu diesem Buch gibt es eine lange Vorgeschichte. Die
beiden Autoren schrieben das Manuskript 1939/40. Es sollte in Leningrad gedruckt
werden. Nach Kriegsbeginn im Juni 1941 wurden das Manuskript und der bereits
begonnene Bleisatz ausgelagert, und dann galten sie als verschollen. Erst einige
Zeit nach Kriegsende fand man Satz und Manuskript wieder, so dass dieses Werk
erscheinen konnte.
Mein Mann, Viktor Ziegler, erwarb 1954 in Leipzig ein Exemplar der 6.,
russischsprachigen Auflage mit dem Titel "Taschenbuch der Mathematik für
Ingenieure und Studenten Technischer Hochschulen". Es dauerte jedoch eine ganze
Weile, bis der Teubner-Verlag von der Bedeutung des Buches überzeugt werden
konnte und mit der Übersetzung einverstanden war. Dann hat mein Mann die mehr
als 500 Druckseiten neben seiner Lektoratstätigkeit während der Arbeitszeit aus
dem Russischen übersetzt. Ergänzt wurde der Originaltext durch einen Abschnitt
über Variationsrechnung, verfasst von Professor Maximilian Miller,
Verkehrshochschule Dresden. Die erste Auflage erschien bei Teubner in Leipzig
1958, die zweite bereits 1959, und die dritte Auflage, erweitert durch einen
Abschnitt über Integralgleichungen, ebenfalls verfasst von Professor Miller,
folgte 1960. Bis 1978 erschienen 18 Auflagen in beachtlichen Auflagenhöhen, und
der Erfolg dieses Titels war über viele Jahre das ökonomische Rückgrat des
Teubner-Verlages in Leipzig.
Durch die Weiterentwicklung der Mathematikausbildung seit dem Entstehen des
russischen Originalmanuskriptes wurde es notwendig, das Buch zu überarbeiten.
Deshalb sprach ich während des Mathematikerkongresses 1966 beim Verlag Nauka in
Moskau vor, um mit den Autoren in Kontakt zu kommen und sie zu einer
Überarbeitung anzuregen. Die Besprechung mit der Moskauer Mathematiklektorin war
zwar höflich und korrekt, aber es herrschte die unfreundlichste Atmosphäre, die
ich während des ganzen Kongresses in Moskau erlebt habe: Die Autoren hätten
geäußert, dass sie sich zu alt fühlten und deshalb das Buch nicht überarbeiten
könnten. Ein Zusammentreffen mit den Autoren war nicht möglich. Der Verlag Nauka
hatte offenbar kein Interesse an dem Taschenbuch, weil er inzwischen die
russische Übersetzung des amerikanischen Nachschlagewerkes von Korn / Korn
herausgebracht hatte.
Nun begann die Suche nach einer Lösung. Nach Möglichkeit sollte der Charakter
des Buches erhalten bleiben; auch neue Teile sollten den gleichen Duktus haben.
Dazu war dann natürlich noch eine Abstimmung mit dem Verlag Nauka nötig. Vorerst
fand sich jedoch kein geeigneter Mathematiker, der diese umfangreiche Aufgabe in
die Hand nehmen wollte. Da mein Mann das Buch sehr gut kannte, konnte ich ihn
und Dr. Günter Grosche, ebenfalls Universität Leipzig, endlich dazu überreden,
die Angelegenheit gemeinsam in die Hand zu nehmen. Um 1970/71 wurde die
Gliederung der Neufassung erarbeitet und an die Sektionen Mathematik
sämtlicher Universitäten und Hochschulen der DDR zur Begutachtung und auch an
den Verlag Nauka geschickt. Anschließend begann die Suche nach Bearbeitern für
die verbleibenden Abschnitte sowie nach Autoren für die neuen Kapitel. Die
meisten kamen von der Sektion Mathematik der Universität Leipzig. Es mussten für
alle Bearbeiter, Autoren und Herausgeber neue Verträge ausgearbeitet und
abgeschlossen werden (unsere vorgedruckten, standardisierten Verlagsverträge
waren dazu nicht geeignet).
Dann türmten sich bei uns die eingehenden Manuskripte. Den größten Teil habe ich
zu Hause lektoriert. Die Autoren hatten zwar vertragsgemäß zwei
Manuskriptexemplare geliefert, aber wir brauchten mehr. Es gab - wie in der DDR
üblich - kein brauchbares Kopiergerät, und Fotokopien wurden zunächst nicht
gestattet, weil sie zu teuer waren. Also haben wir zwei komplette Exemplare mit
einem der beiden verlagseigenen Thermokopiergeräte hergestellt! Diese Mengen (es
waren ja etwa 1.500 oder mehr Manuskriptseiten) hat das Gerät nicht ohne Folgen
überstanden; es war danach nur noch bedingt einsetzbar. Eine der beiden Kopien
erhielt der Verlag Nauka in Moskau, aber von dort kam keinerlei Reaktion. Die
andere ging zur Begutachtung an die Sektion Mathematik der TH Karl-Marx-Stadt
(Chemnitz), wo die einzelnen Abschnitte zur Einschätzung an die verschiedenen
Fachrichtungen verteilt wurden.
Nach Einarbeitung der Vorschläge aus dem Gutachten ging das Manuskript in die
Herstellung sowie eine (richtige) Fotokopie an den Verlag Nauka mit der Bitte um
Stellungnahme. Diese ließ sehr lange auf sich warten und lautete dann, dass die
Autoren so nicht einverstanden wären. Also Dienstreise nach Moskau. Doch wenige
Tage vor unserer Ankunft war Dr. Bronstein verstorben. Bei den Verhandlungen mit
Professor Semendjajew und Nauka stellte sich heraus, dass der Moskauer Verlag
einige Kapitel nicht haben wollte. Er gab aber sein Einverständnis, dass diese
Kapitel in einem gesonderten Band unter dem Titel "Ergänzende Kapitel zum
Taschenbuch der Mathematik von Bronstein/Semendjajew" erscheinen konnten. Mit
Professor Semendjajew wurden einige fachliche Fragen sachlich geklärt.
Nun endlich konnten Satz und Druck in Leipzig beginnen, und jetzt zeigten sich
die Begabungen des Teubner-Verlagsdirektors Heinz Kratz, und zwar einerseits für
PR, andererseits auch für die Ausnutzung aller DDR-Möglichkeiten zur Förderung
eines Projektes sowie zur Überwindung bürokratischer Widerstände und
Hindernisse. Schon nach der Begutachtung rief er einen Wettbewerb ins Leben und
schloss einen offiziellen Wettbewerbsvertrag zwischen dem Teubner-Verlag, dem
Graphischen Großbetrieb Interdruck in Leipzig (der in den 60er Jahren zu
wesentlichen Teilen aus B. G. Teubner hervorgegangen war) und der Sektion
Mathematik der Universität Leipzig ab. Damit wurde das Buch über ein
gewöhnliches Verlagsobjekt hinausgehoben; die Ministerien in Berlin waren
informiert, es lief vieles öffentlich ab, und jeder musste sich bemühen, die
Vertragsbedingungen zu erfüllen, vor allem auch die Termine einzuhalten. Die
Bemühungen von Heinz Kratz galten aber auch der graphischen Gestaltung des
Taschenbuches. Es sollte ebenso gut werden, wie das in 18 Auflagen vorliegende,
seinerzeit noch von B. G. Teubner gesetzte, alte Taschenbuch, das als "Schönstes
Buch" ausgezeichnet worden war.
Insgesamt haben sich die knapp zehnjährigen Arbeiten und Anstrengungen gelohnt.
Im Oktober 1979 fand in der Deutschen Bücherei in Leipzig die feierliche
Buchpremiere mit vielen Gästen statt, u. a. auch Professor Semendjajew. Vor
allem aber gingen mit der Zeit viele positive Rezensionen und Stellungnahmen
ein: die neue Form des "Bronstein", die 19., völlig überarbeitete Auflage 1979,
war angenommen. Über längere Zeit wurden nun jährlich je 10.000 Exemplare für
die DDR und für die BRD ausgeliefert und auch verkauft.
(Quelle:
Dorothea Ziegler, Frauwalde / Archiv der Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner,
Leipzig, 2002.)
Erstveröffentlichung online am
21.02.2002 unter www.stiftung-teubner-leipzig.de
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Seite erstellt:
Leipzig, 21.02.2002.
© Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner (i. G.), Leipzig, 2002.