Heichen, Walter
:
Kommerzienrat Hermann Giesecke

"Es ereignet sich wohl in allen Berufen, dass von Generation zu Generation die Berufsliebe sich forterbt und sich aus kleinen Anfängen grosse Gebilde entfalten. Von allen Berufen zumeist dürfte dies aber wohl gelten von den graphischen, die wie kaum ein zweitesmal durch das verschiedentliche Zusammenarbeiten von Hilfszweigen ein grosses Ganzes darstellen, für das sich die Bezeichnung Buchindustrie eingebürgert hat. Blicken wir die reiche Namenreihe von Geschlechtern durch, welche der Buchindustrie Pflege angedeihen liessen, so tritt uns vornehmlich ein Name vors Auge: der Name Giesecke, der der  graphischen Kulturwelt durch zwei Firmen von hohem Klange, man darf ruhig sagen, "in Fleisch und Bein" übergegangen ist, nämlich durch die Firmen Giesecke & Devrient und J. G. Schelter & Giesecke. Der erste, welcher in diesem hervorragendsten unserer graphischen Patriziergeschlechter auftritt, ist Christian Friedrich Giesecke, der am 31. März 1793 geboren ist und am 12. Juli 1850 verstarb. Er begründete die zweite der genannten Firmen, welche  seit 1839 in seinem Alleinbesitz war, an seine beiden Söhne Karl Ferdinand (1817-1893) und Bernhard Rudolf (1826-1889) überging und heute im Besitze seiner Enkel ist, der Söhne Bernhard Rudolfs: Georg (geboren 9. Februar 1853, Teilhaber seit 1881) und Dr. Walter (geboren 5. März 1864).

Christian Friedrichs zweitältester Sohn Hermann, geboren am 9. April 1831, den unsere heutige Porträtbeilage vorführt, begründete am 1. Juni 1852 im Verein mit Alphons Devrient (1821-1878) jenes einzig in der Welt dastehende graphische Institut Giesecke & Devrient, welches seit Jahrzehnten als Werkstatt für die in der Welt kursierenden Wertpapiere gilt und neben diesem Zweige hauptsächlich die Herstellung von geologischen und topographischen Spezialkarten und in seiner lithographischen Abteilung den feineren Buntdruck pflegt. Diese hervorragende Musteranstalt ist mit den Jahren auf einen Bestand von 124 Pressen und 146 Hilfsmaschinen, die durch zwei Dampfmaschinen von 160 Pferdestärken getrieben werden, und auf einen Personalbestand von annähernd einem halben Tausend gelangt und befindet sich auch unter der Leitung der jetzigen Inhaber, seit Hermann Gieseckes Tode (31. Dezember 1900) Hermanns Bruder Dr. Bruno (geboren 14. September 1835), Hermanns Sohn Raimund (geboren 15. Januar 1856) und Dr. Brunos Sohn Johannes (geboren 20. Januar 1871), in fortdauernder Blüte. Die Werke, welche die Firma im eigenen Verlage herausgiebt, sind durchweg Mustereditionen ersten Ranges. Gleichwie die graphischen Werkstätten der Firma zufolge der Eigenart ihrer Produkte nur für wenige zugänglich sein können, bringt es auch der wertvolle Charakter dieser Editionen mit sich, dass sie nicht zu den allgemein bekannten Erscheinungen des Büchermarktes gehören. Auch sie können nur einem bevorzugten Publikum zugänglich sein. Wenigstens gilt dies von Publikationen wie dem Codex sinaiticus und Novum testamentum vaticanum, ebenso von Tischendorfs Codex diplomaticus Saxoniae.

Hermann Giesecke, der Begründer dieses Musterinstitutes, gehörte zu jenen Männern, welche mit einem hervorragenden Sinn für vornehme Kunstpflege einen scharfen Blick für den Geschmack und die Bedürfnisse eines vornehmen Publikums verbinden und als Grundsatz bei allem, was sie unternehmen, die Worte: “Das Beste ist für uns gut genug“ aufstellen und festhalten. Hermann Giesecke ist durch den Titel Kommerzienrat vom sächsischen Königshause geehrt worden, eine weit höhere Ehre liegt aber für ihn in dem Werke, das er hinterlassen hat, und in der Anerkennung, die auch nach seinem Tode noch seinem Wirken zuteil wird. Es hat eine unsägliche Menge von Arbeit im einzelnen und Dichten und Trachten im grossen dazu gehört, bis eine Schöpfung vollendet war, die heute von der Welt unter dem klangvollen Namen Giesecke & Devrient bewundert wird. Hermann Giesecke ist unter den Sternen, die am graphischen Himmel diesen Namen tragen, der glanzvollste."

 

(Quelle:
Walter Heichen:
Kommerzienrat Hermann Giesecke.
In: Deutsche Buchhandelsblätter. Illustrierte Monatsschrift für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel,
das Buchgewerbe und die graphischen Künste. 3(1903)7, S. 249-250.
Ohlenroth'sche Buchdruckerei, Erfurt. Redaktion: Walter Heichen in Bad Kösen.
Dank für die Übermittlung dieses Textes gilt Herrn Michael Giesecke in Dossenheim.)

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Siehe auch: Leipzig / Graphisches Viertel ...

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Seite erstellt: Leipzig, 27.08.2002.

 

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