Manteuffel, Karl:

Abenteuer Lehrbuch:
Mathematik für Technische Hochschulen
 

Vor 40 Jahren – im Frühjahr 1962 – machte ich als Gast auf einer Tagung der damaligen Literaturarbeitsgemeinschaft Mathematik meinem Herzen wieder einmal Luft wegen der unbefriedigenden Situation auf dem Gebiet mathematischer  Lehrbücher für Nichtmathematiker. Für Studierende der Mathematik gab es eine Vielzahl von Lehrbüchern, hinzu kam ein großes Angebot von Monographien und Sammelbänden. Aber es fehlte an geeigneten Titeln für Ingenieurstudenten, die für ihr Fachstudium mathematisches Wissen benötigen, denen in den Anfangssemestern verschiedene Teilgebiete der Mathematik vorgestellt werden und die i. Allg. nach drei oder vier Semestern ihre erworbenen Kenntnisse in einer Prüfung nachweisen müssen. Es gab allgemeine Zustimmung der Tagungsteilnehmer und eine Wortmeldung. Letztere gipfelte in der Frage an mich, welche Vorschläge ich parat hätte, um diese unbefriedigende Situation zu überwinden. Leider konnte ich nur mit einigen grundsätzlichen Überlegungen dienen: Überarbeitung des mehrbändigen Teubner-Lehrbuches von R. Rothe unter Berücksichtigung der bisher vorliegenden, aktuellen Studienanleitungen oder Erarbeitung eines neuen Lehrbuches auf der Basis von Fernstudienbriefen der TH Dresden und der Bergakademie Freiberg. Alle Teilnehmer empfanden das aber so wie ich selbst – nämlich als unbefriedigend. Letzten Endes gab es eine Einigung: der Fragesteller und ich sollten uns Gedanken machen und praktikable Vorschläge unterbreiten.

Der Fragesteller war Viktor Ziegler, der Fachlektor für Mathematik des Teubner-Verlages in Leipzig. Das war für mich der Beginn einer fruchtbaren und erfolgreichen Zusammenarbeit mit dem traditionsreichen Wissenschaftsverlag B. G. Teubner; ununterbrochen bis heute und nacheinander gestaltet und verbunden mit den Verlagsmitarbeitern Wolfgang Arnold, Dorothea Ziegler und Jürgen Weiß.

Aber zurück zum Lehrbuchproblem. Wir informierten uns über die vorhandene deutschsprachige Lehrbuchliteratur in der Bundesrepublik, der Schweiz und Österreich, durchforsteten die internationalen Buchangebote der damaligen UdSSR (dort erschien entsprechende Literatur nicht nur in russischer, sondern auch in englischer, französischer oder deutscher Sprache). Dabei stießen wir auf ein Lehrbuch der Differential- und Integralrechnung von N. S. Piskunow, das seit 1957 vorlag und dessen 5. Auflage in russischer Sprache für 1964 angekündigt war, gleichzeitig mit einer englischen Ausgabe. Rücksprachen beim Verlag Nauka in Moskau ergaben, dass man für 1965 eine französische Übersetzung vorbereitete, eine deutsche Fassung jedoch nicht geplant sei. Das Buch eignete sich als Grundlage für die Mathematikausbildung an unseren Technischen Hochschulen, und zwar sowohl für das Direkt- als auch für das Fernstudium. Ferner wurden wir auf ein Buch von S. G. Krein und W. N. Uschakowa aufmerksam, das zur Wiederholung von Grundkenntnissen aus der Analysis einsetzbar war. Bei Besuchen in Polen fiel mir ein ganz anders konzipiertes Buch auf, das an polnischen Technischen Hochschulen sehr verbreitet war und schon auf mehr als 12 Auflagen verweisen konnte: Höhere Mathematik in Aufgaben, verfasst von W. Krysicki und L. Wlodarski. Neben der Analysis spielten in der Ingenieurausbildung auch andere Gebiete eine Rolle, die nun nicht alle unbedingt in den Grundkurs eingebaut werden mussten, aber zum Teil Bestandteil des Fachstudiums geworden waren: Lineare Algebra, Rechentechnik und Datenverarbeitung, Lineare Optimierung, Stochastik, Praktische Mathematik. Das erste Konzept für die neue Teubner-Lehrbuchreihe „Mathematik für Technische Hochschulen“ sah zunächst acht Bände vor:

Band 1:  
Vorkurs zur Analysis;

Band 2, 3, 4:
Differential- und Integralrechnung I, II, III;

Band 5, 6: 
Höhere Mathematik in Aufgaben I, II;

Band 7:  
Einführung in die lineare Algebra und lineare Optimierung;

Band 8:  
Rechentechnik und Datenverarbeitung.

Der Teubner-Verlag bot mir einen Herausgebervertrag an. Damals glaubte ich, die Hauptarbeit wäre schon mit der Konzeption erledigt. Doch das erwies sich natürlich als großer Irrtum. Es mussten Übersetzer gewonnen werden, Verantwortliche für die wissenschaftliche Redaktion. Über die Gestaltung der Bücher war zu entscheiden, wirtschaftliche Gesichtspunkte mussten berücksichtigt werden. Seinerzeit konnten übrigens Reihenherausgeber die Einbandgestaltung "ihrer" Buchreihe mit beeinflussen. Schließlich und endlich hatte der Herausgeber das Imprimatur zu erteilen.

Nach etwas zähem Anlauf klappte es aber ganz gut; die „Helfer“ kamen aus Berlin, Leipzig, Rostock und Magdeburg. Die Bände 1, 2 und 4 erschienen 1966, die Bände 3 und 5 folgten 1967. Von diesen Titeln gab es auch Lizenzauflagen im Schweizer Pfalz-Verlag. Die ursprüngliche Konzeption wurde dann sogar noch um zwei Bände erweitert:

Band 9:
Wahrscheinlichkeitsrechnung und Mathematische Statistik in Aufgaben
(A. A. Sweschnikow u. a.)

sowie

Band 10: 
Näherungsmethoden zur Lösung von Differential- und Integralgleichungen
(S. G. Michlin und C. L. Smolitzki).

Der Band 10 konnte 1969 vorgelegt werden, die Bände 7 und 9 erschienen 1970, der Band 6 folgte 1971, während Band 8 nie geschrieben wurde – auf den Gebieten Computer, Rechentechnik, Datenverarbeitung gab es inzwischen einen Boom an Literatur. Die Bände 2 und 3 erlebten Nachauflagen, Band 7 (Lineare Algebra und lineare Optimierung) erschien 1975 in polnischer Übersetzung.

Warum ist diese Reihe ausgelaufen – waren die Bücher nicht angenommen worden? Unser Ziel war eine schnelle Bereitstellung geeigneter Literatur für die Mathematikausbildung von Ingenieurstudenten. Innerhalb von zwei bis drei Jahren wäre das mit neu zu verfassenden Manuskripten aber nicht zu machen gewesen; der Band 7 ist der beste Beweis dafür. So ergab sich nun der nächste Schritt, nämlich die Ablösung aller Bände durch Bücher eigener Autoren, und zwar in Abstimmung zwischen allen Hochschuleinrichtungen, die Ingenieure ausbildeten. In diesem Sinne beantwortete ich 1967 eine Anfrage des Hochschulministeriums nach dem Weiterführen der Reihe.

Die Entwicklung verlief dann jedoch etwas anders: Es ging nicht mehr nur um die mathematische Ausbildung von Ingenieurstudenten, sondern es wurde Literatur konzipiert, die einsetzbar sein sollte für alle Studienrichtungen, die im Grundstudium, also vor dem Vordiplom, mathematische Kenntnisse erwerben mussten. Die mit der hier vorgestellten Reihe „Mathematik für Technische Hochschulen“ gewonnenen Erfahrungen lieferten wertvolle Anregungen für künftige Lehrbuchentwicklungen. Der Band 7, verfasst von meinem Kollegen Egon Seiffart und mir, konnte nach Überarbeitung in zwei Bänden (Lineare Algebra, Lineare Optimierung) in die neue Teubner-Lehrbuchreihe „Mathematik für Ingenieure, Naturwissenschaftler, Ökonomen und Landwirte“ übernommen werden, und ich selbst gehöre mit zu den Begründern und Herausgebern dieser Reihe. Aber das ist dann schon wieder eine andere Geschichte.



(Quelle:
Prof. em. Dr. Karl Manteuffel, Magdeburg / Archiv der Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner, Leipzig, 2002.)

Erstveröffentlichung online am 21.03.2002 unter www.stiftung-teubner-leipzig.de


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 Der Autor dieses  Beitrages
 (Magdeburg 1965 / Magdeburg 1963 bei einer Demonstration am ZRA 1).


 (Fotos: Prof. Dr. Karl Manteuffel /
 Archiv der Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner.)


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In Vorbereitung für diese Homepage:

- Manteuffel, Karl:
  Abenteuer Lehrbuch: MINÖL.

- Manteuffel, Karl:
  Abenteuer Lehrbuch: Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler.


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Siehe auch:

- Mathematik für Technische Hochschulen (MTH: 1966-1972) / Reihenübersicht ...

- Mathematik für Ingenieure, Naturwissenschaftler, Ökonomen und Landwirte (MINÖL: 1973-1992) /
  Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler (MfIN: seit 1993) / Reihenübersicht ...


- Ziegler, Dorothea: Notizen über die Entwicklung von Mathematik-Lehrbüchern im Teubner-Verlag Leipzig (2002) ...

-
Zeitzeugen ...


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Siehe auch:

Aus Teubner-Büchern (von Albert Einstein
über "Ach Gott, ein Mathematiker!" bis zu
einer Fehleinschätzung von Bill Gates) ...



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Seite erstellt: Leipzig, 21.03.2002.

 

  © Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner (i. G.), Leipzig, 2002.