Triebel, Hans:

Die Entwicklung der Mathematik
im Spiegel der Teubner-Bücher aus Leipzig (Auszüge)



Es spricht für den großen verlegerischen Weitblick, daß B. G. Teubner die Gunst der Stunde erkannte: Die Mathematik als aufstrebende Wissenschaft war auf der Suche nach Publikationsmöglichkeiten, und das Teubnersche Verlagshaus war bestens gerüstet für diese Aufgabe. Vermutlich war es die gute Druckausführung der technisch schwierigen griechischen und lateinischen Textausgaben, die die Mathematiker ihrerseits auf den Teubner-Verlag aufmerksam werden ließ. Der Satz mathematischer Texte, gegebenenfalls mit Illustrationen versehen, stellte hohe Anforderungen.

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1943 wurden die Druckerei, die Verlagsgebäude und Archive des Teubner-Verlages fast vollständig vernichtet. Der Neuanfang nach 1945 war schwer. Erst Anfang der 50er Jahre konnte an die Traditionslinien der Vergangenheit angeknüpft werden: Altertumswissenschaften, Mathematik und Physik. Bewährte Lehrbücher wurden weitergeführt und neu aufgelegt. Grimsehl „Lehrbuch der Physik“ ist ein Beispiel hierfür. Die Übersetzung von Lehrbüchern aus dem Russischen (insbesondere durch Viktor Ziegler) wurde ein Schwerpunkt des mathematischen Verlagsprogramms. Besonders möchte ich die beiden Bücher von Petrowski nennen: „Vorlesungen über die Theorie der gewöhnlichen Differentialgleichungen“ (Teubner, Leipzig, 1954) und „Vorlesungen über partielle Differentialgleichungen“ (Teubner, Leipzig, 1955), die ich als junger Student mit großem Eifer gelesen habe und die mein Verständnis dieser Theorien in entscheidender Weise geprägt haben. Wenn ich mich richtig erinnere, ist das Buch von Petrowski über partielle Differentialgleichungen überhaupt das erste Mathematikbuch, das ich käuflich erworben habe: knapp 300 Seiten, Bleisatz, gut gesetzt, gut gebunden, 17,-- Mark. In jener Zeit entstand auch die Reihe „Mathematisch-Naturwissenschaftliche Bibliothek“, die es auch heute noch gibt. Aus eigenem Erleben möchte ich insbesondere die Bände 21, 22 und 23 erwähnen, Priwalow „Einführung in die Funktionentheorie“ I – III (Übersetzung aus dem Russischen, Teubner, Leipzig, 1958/59), die ich seinerzeit mit großem Interesse gelesen habe und die auch heute noch empfehlenswerte Lehrbücher sind. Das Verlagsprogramm wurde im Laufe der Jahre reichhaltiger. Wir erwähnen insbesondere Bronstein/Semendjajew „Taschenbuch der Mathematik“, das 27bändige Lehrwerk „Mathematik für Ingenieure, Naturwissenschaftler, Ökonomen und Landwirte“ (kurz MINÖL genannt) und die „Mathematische Schülerbücherei“.

Aber erst in den letzten Jahren konnte der Teubner-Verlag sein Mathematik-Programm so erweitern, daß es jenen Anforderungen genügt, die ich oben beschrieben hatte. Ich denke hierbei insbesondere an die „TEUBNER-TEXTE zur Mathematik“ und an die jüngste Schöpfung, das „TEUBNER-ARCHIV zur Mathematik“. Zusammen mit den schon genannten Serien und der Reihe „Mathematik und ihre Anwendungen in Physik und Technik“ (Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig) ist damit ein flexibles Instrumentarium entstanden, um Mathematik in all ihren Aspekten erfolgreich publizieren zu können. Das „TEUBNER-ARCHIV zur Mathematik“ erscheint seit 1984. Es ist das Ziel, klassische mathematische Arbeiten zu publizieren, versehen mit Anmerkungen und Kommentaren kompetenter Mathematiker unserer Tage. Die ersten beiden Bände beschäftigen sich mit geometrischen Arbeiten von Gauß, Riemann und Minkowski einerseits sowie den früher so umstrittenen Arbeiten von Georg Cantor  (1845 – 1918) zur Mengenlehre andererseits. (Bezüglich der Mengenlehre von Cantor sprach Hilbert von einem Paradies und Poincaré (1854 – 1912) von einer Krankheit. Klein war indefenit.) Zum Schluß möchte ich noch einige Bemerkungen zur Reihe „TEUBNER-TEXTE zur Mathematik“ machen. Mathematik kurzfristig (innerhalb weniger Monate) publizieren zu können, war Anfang der 70er Jahre eine unbedingte Notwendigkeit geworden. Es war wesentlich, daß sich die DDR diesem internationalen Trend anschloß. Eine aufgeschlossene Verlagsleitung und das hohe Engagement des Mathematiklektors Dr. Thiele führten dann 1976 zur Gründung der Serie „TEUBNER-TEXTE zur Mathematik“. Mathematiker des In- und Auslandes erhielten die Möglichkeiten, im Schreibsatz Bücher zu publizieren, bei moderaten Preisen (vergleichbar den oben erwähnten 17 Mark für das Buch von Petrowski) und kurzen Wartezeiten. Die Serie wurde ein überraschend guter Erfolg. Der Verlag hatte eine Marktlücke entdeckt: bei Autoren  und bei Lesern. Im Oktober 1982 veranstaltete Teubner in Abstimmung mit der Mathematischen Gesellschaft der DDR eine internationale Tagung zum Thema „Aktuelle Probleme und Entwicklungstendenzen der Mathematik“. Wissenschaftler aus 15 Ländern folgten der Einladung nach Reinhardsbrunn, und der Tagungsband konnte bereits drei Monate später als 50. Teubner-Text vorgelegt werden. In der Zwischenzeit erschienen über 80 Bände von Autoren aus vielen Ländern, z. Z. etwa 10 – 12 pro Jahr. Zugleich nahm der Verlag Abschied von der bis dahin gepflegten Tradition, Mathematik ausschließlich in deutscher Sprache zu publizieren. Eine Vielzahl der Teubner-Texte, inbesondere monographischer Natur, erscheinen in englischer Sprache. Es ist bemerkenswert, daß der Verlag auch bei den Teubner-Texten auf alte Traditionen verweisen kann. Bei wohlwollender Interpretation stammen die ersten Teubner-Texte von Felix Klein. Er veranlasste 1889/90 den Teubner-Verlag, seine „Autographierten Vorlesungshefte“ im Steindruckverfahren herauszugeben. Mitarbeiter hatten hierfür saubere handschriftliche Ausarbeitungen anzufertigen.

Zum Schluß möchte ich dem Teubner-Verlag zu seinem Jubiläum gratulieren, verbunden mit dem Wunsch, daß der Aufschwung der letzten Jahre noch lange anhalten möge.

 

(Auszüge aus dem Vortrag "Die Entwicklung der Mathematik im Spiegel der Teubner-Bücher aus Leipzig",
gehalten anläßlich des 175jährigen Jubiläums des Teubner-Verlages,
Alte Handelsbörse Leipzig, Februar 1986.
Quelle:
Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft der DDR, 1/1986, S. 15; 19-21.)



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Siehe auch:

Aus Teubner-Büchern (von Albert Einstein
über "Ach Gott, ein Mathematiker!" bis zu
einer Fehleinschätzung von Bill Gates) ...



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Seite erstellt: Leipzig, 15.09.2002.

 

  © Stiftung Benedictus Gotthelf Teubner (i. G.), Leipzig, 2002.